Beschwerdenvalidierung in der neuropsychologischen Diagnostik
Im klinischen Alltag ist man im Rahmen der Routinediagnostik nicht sehr häufig, aber immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass einem die erhobenen, dann meist sehr reduzierten Testergebnisse nicht passend vorkommen zu dem erwarteten Leistungsprofil (z.B. extrem verlangsamte Reaktionszeiten oder extrem eingeschränkte Lernleistungen bei fehlenden Hinweisen auf einer organische Hirnerkrankung). Im gutachterlichen Kontext ist der Diagnostiker dagegen sehr häufig mit dem Phänomen der Aggravation oder Simulation konfrontiert. Mit Hilfe sogenannter Beschwerdenvalidierungsverfahren ist es möglich, derartige Tendenzen aufzudecken. Das Interesse für diesen speziellen Bereich der Diagnostik hat in den 1980er Jahren in den USA ihren Anfang genommen und in der Zwischenzeit gibt es auch zahlreiche deutschsprachige Literatur dazu (z.B. von Dr. Thomas Merten).
Grundsätzlich kann man zwischen einer Antwortverzerrung (unzutreffende Antworten, falsche Auskünfte), einer Aggravation (Übertreibung von Beschwerden) und einer Simulation (Vortäuschen von nicht vorhandenen Beschwerden) unterscheiden. Dieses Verhalten ist absichtlich und wird sehr bewusst von den Probanden oder Exploranden gewählt. Demgegenüber kann es aber auch bei bestimmten psychischen Störungen (z.B. bei artifiziellen Störungen, somatoformen Störungen) zu ähnlichen Phänomenen kommen, die sich ähnlich präsentieren, dann aber nicht immer absichtsvoll und unreflektiert „gesteuert“ sind. Dass Aggravation, Simulation und negative Antwortverzerrungen vor allem in Gutachtenssituationen häufig vorkommen, belegen Prävalenzraten von bis zu 50% und mehr.
Zur Erfassung von derartigem Verhalten wurden eigene Testverfahren entwickelt (sog. Beschwerdenvalidierungstests, spezielle Fragebogenverfahren). Es gibt aber auch die Möglichkeit, absichtliche Leistungsverzerrungen anhand spezifischer Parameter in herkömmlichen neuropsychologischen Testverfahren zu erfassen. Als Beispiel dafür sei auf aktuelle Arbeiten von Herrn Assoz. Prof. PD. Dr. Johann Lehrner verwiesen. In seinem Artikel „Motor Reaction Times as an Embedded Measure of Performance Validity: a Study with a Sample of Austrian Early Retirement Claimants“ geht es beispielsweise um die Aussagekraft unterschiedlicher Aufmerskamkeitsparameter aus der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP). An der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien wurde die Beschwerdenvalidierung bei Patienten einer Gedächtnisambulanz untersucht (Czornik, Merten & Lehrner, 2021). Die Studie setzte PVTs (kognitive Beschwerdenvalidierungstests) und BVTs (Beschwerdenvaliditätstests auf Fragebogenebenen) bei Patienten mit Subjective Cognitive Decline (SCD) und Mild Cognitive Impairment (MCI) ein. Es wurde eine kleine, aber nicht triviale Rate wahrscheinlicher Antwortverzerrungen gefunden. In einer weiteren Studie (Czornik, Seidl, Tavakoli, Merten & Lehrner, 2022) wurde die Reaktionszeit als eingebetteter PVT untersucht. Die Ergebnisse ermutigen zur Verwendung des Alertness-Subtests der Testbatterie zur Aufmerkamkeitstestung (TAP) als eingebettetes Maß für die Überprüfung der Leistungsvalidität. Derzeit werden an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien weitere Verfahren hinsichtlich ihrer Eignung als eingebettete BVT geprüft, wie etwa Vienna Visuo-constructive Test 3.0 Screening (VVT3.0 Screening - Lehrner, 2021a), Forgetfullness Assessment Inventory (FAI - Lehrner, 2021b), City Identication Test (CITY- Lehrner, 2021c), Face Identifcation Test (FACE-Lehrner, 2021d), die unter www.psimistri.com verfügbar sind.
Aus Sicht des Autors empfiehlt es sich, sich in diese Thematik einzuarbeiten. Für Sachverständige ist dies unerlässlich (die Verwendung von Beschwerdenvalidierungsverfahren wird von Auftraggebern immer mehr erwartet) und für die Routinediagnostik z.B. in einem Krankenhaus bietet die Anwendung dieser Verfahren in bestimmten Situationen einen oftmals „spektakulären“ Erkenntnisgewinn.