Das Gerstmann-Syndrom
Das Gerstmann-Syndrom ist ein bekanntes neuropsychologisches Syndrom, das man im klinischen Alltag im Rahmen der neuropsychologischen Diagnostik immer wieder finden kann. Es zählt zu den parietalen Syndromen (wie z.B. Neglekt, Balint-Syndrom, Agnosien) und wurde von dem Wiener Neurologen Josef Gerstmann 1924 erstmals beschrieben. Das Gerstmann-Syndrom ist gekennzeichnet durch eine Fingeragnosie, eine Rechenstörung, eine Schreibstörung und eine Rechts-Links-Orientierungsstörung.
Ob das Gerstmann-Syndrom als solches aber tatsächlich existiert und auch ein einheitliches Syndrom darstellt, wird in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder diskutiert. Wenn man Patienten mit parietalen Läsionen (in der dominanten Hemisphäre, Gyrus angularis) untersucht, kann man das Gerstmann-Syndrom zwar finden, häufig aber inkomplett (d.h. nicht alle vier Störungsbilder sind vorhanden) und nicht selten findet man dafür auch noch andere Symptome (z.B. Aphasien, Apraxien). Ein Grund dafür kann darin liegen, dass die einzelnen Störungsbilder nahe beieinander lokalisiert sind und je nach Schädigungsart und Schädigungsausmaß mehr oder weniger Symptome auftreten.
Vaddiparti et al. sind dieser Frage in ihrer Arbeit nachgegangen. Sie berichten in ihrem Case Report in der Zeitschrift Neurology von einer 32-jährigen Frau, der bei einer nichtläsionellen medikamentenrefraktären Epilepsie Elektroden implantiert wurden. (Anm. Mit Hilfe dieser Elektroden kann ein genaueres EEG zur Anfallslokalisation abgeleitet werden. Das ermöglich dann in weiterer Folge eine möglichst zielgenaue neurochirurgische Intervention. Gleichzeitig kann man über diese Elektroden auch Strom applizieren und damit Hirnfunktionen lokalisieren). Die Patientin zeigte nach der Elektrodenimplantation ein transientes Gerstmann-Syndrom (als Effekt der Operation, z.B. durch Ödembildung). Vier Wochen nach Implantation der Elektroden wurde dann mittels elektrokortikaler Stimulation versucht, Zeichen des Gerstmann-Syndroms zu identifizieren und lokalisieren. Als Ergebnis werden in der Arbeit die einzelnen Komponenten (Symptome) des Gerstmann-Syndroms plastisch sehr schön dargestellt und es zeigt sich tatsächlich, dass sich die kortikalen Repräsentationen der vier Störungsbilder des Gerstmann-Syndroms alle in der Nähe des unteren Teils des Lobulus parietalis superior befinden. Dies zeigt für die Autoren, dass sich die unterschiedlichen Störungsbilder im dominanten parietalen Kortex mit geringen Überlappungen lokalisieren lassen und derartige Untersuchungen wichtig sind für das Verständnis funktioneller Neuroanatomie.
Quelle:
Gerstmann Syndrome Deconstructed by Cortical Stimulation. Aparna Vaddiparti, MD, Hari McGrath, Christopher F.A. Benjamin, PhD, Adithya Sivaraju, MD, Dennis D. Spencer, MD, Lawrence J. Hirsch, MD, Eyiyemisi Damisah, MD,* and Imran H. Quraishi, MD, PhD*; Neurology® 2021;97:420-422. doi:10.1212/WNL.0000000000012441